Wartesaal der verpassten Möglichkeiten

Stell dir vor, alle deine bisher im Leben – aus welchen Gründen auch immer – verpassten Möglichkeiten würden in einem Wartesaal auf ihre 2. Chance warten. Und hier im Text findest du den Schlüssel zu diesem Wartesaal.

(Kleine Einladung vorab: Beobachte was in dir so alles passiert, wenn du das liest. Was passiert in deinen Gedanken, was in deinem Körper und wenn Emotionen auftauchen, welche sind das? Nimm dir einen Moment Zeit und guck mal, was in deinem Gesamtsystem grad so alles passiert.)

Stell dir in aller Ruhe vor, wie ich dir den Schlüssel, deinen Schlüssel gebe. Ist es ein großer, schwerer Schlüssel oder ist dein Schlüssel eher klein und unscheinbar? Aus welchem Material ist er? Ist er alt und verschnörkelt oder neu und passt nur in ein Sicherheitsschloss? Wie nimmst du ihn entgegen? Zaghaft und vorsichtig oder nach dem Motto „Her damit! MEINER!“? Bemerke deine ersten spontanen Impulse, ohne sie zu bewerten. Einfach nur bemerken.

Und was passiert, wenn der Schlüssel in deiner Hand liegt? Was verändert sich und wie nimmst die Veränderung wahr?

Du fragest dich jetzt vielleicht, warum ich dir all diese Fragen stelle. Hab noch ein wenig Geduld, ich erkläre es dir gleich. Versprochen. Aber zunächst ist es wichtig, dass du dir jetzt die Zeit nimmst und sehr bewusst mitbekommst, was da in deinem Körper und in deinem Kopf so alles vor sich geht.

Zum einen, weil wir im Alltag davon kaum etwas mitbekommen. Zum anderen, weil das, was da jetzt so alles in dir passiert, Teil eines alten Musters ist. Und mit zu diesem Muster gehört, dass es überhaupt so einen Wartesaal der verpassten Möglichkeiten in deinem Leben gibt.

Mögliche erste Impulse

Neurobiologisch gibt es 3 Impulse, die uns in jeder Situation zur Verfügung stehen:

  • nach vorne (Angriff)
  • nach hinten (Flucht)
  • stehen bleiben (erstarren)

Und diese Impulse kann man mit 2 Motivationen ausführen: Neugier oder Angst.

Ich kann neugierig auf etwas zugehen oder ich kann aus Angst angreifen.

Ich kann mir das Neue, Fremde, Ungewohnte aus etwas mehr Distanz neugierig und in aller Ruhe anschauen oder ich kann mein Heil in der Flucht suchen.

Ich kann stehen bleiben und (ab-)warten oder ich kann vor Schreck erstarren und zu keiner Bewegung mehr in der Lage sein.

Welches war dein erster Impuls, als ich dir deinen Schlüssel hingehalten habe?

Mögliche zweite Impulse

Die ersten 3 Impulse sind in uns wie Reflexe angelegt. Sie passieren teilweise so schnell, dass wir keine Chance haben, gegenzusteuern. Wir haben die Luft angehalten, die Augen weit aufgerissen oder die Hand weggezogen, bevor unser Verstand gegensteuern und uns cool, souverän oder was auch immer wir meinen was angemessener ist, wirken lassen kann.

Ist diese erste Reaktionswelle durch, schaltet sich der Verstand (= Neokortex) ein – und ab jetzt wird es komplex. Denn der Neokortex überflutet das gerade Erlebte mit Erinnerungen, Wertungen, Glaubenssätzen etc. Also all dem Kram, wegen dem man sich so richtig schön mies fühlen kann.

Es kann also sein, dass du im ersten Impuls neugierig auf das Spiel eingelassen und nach deinem Schlüssel gegriffen hast. Und im zweiten Impuls hast du innerlich wegen all der verpassten Möglichkeiten mit dir geschimpft und unser Spiel für dumm und sinnlos abgetan. Es kann auch sein, dass da ein kurzer Moment der Neugier war, der aber prompt von einem Gefühl der Resignation überlagert und im Keim erstickt wurde. Oder da war ein kleiner Anflug von Ärger, vielleicht gegen mich gerichtet, weil ich dir unterstelle, in deinem Leben gäbe es so viele verpasste Möglichkeiten, dass sie einen ganzen Wartesaal füllen.

Und manchmal passiert augenscheinlich auch gar nichts. Dann schützt uns der Neokortex vor … was auch immer. Vielleicht wartet eine besondere schmerzliche verpasste Möglichkeit hinter der Tür und es ist besser, dass sie im Wartesaal bleibt. Oder du hast einmal eine Möglichkeit am Schopf gegriffen und dabei eine ziemliche Bauchlandung erlebt.

Welches war dein zweiter Impuls?

Öffnest du die Tür?

Du hälst nun deinen Schlüssel in der Hand. Was machst du nun damit? Öffnest du die Tür? Legst du ihn erst einmal zur Seite und wartest auf eine günstige(re) Gelegenheit?

Auch hier lade ich dich wieder ein, bewusst in dich hineinzuhorchen. Ohne (Be-)Wertung und ohne dich selber unter Druck zu setzen.

Gibt es vielleicht eine verpasste Gelegenheit, nach der du als erstes Ausschau halten wirst? Um dann diesmal was mit ihr zu tun? Sie jetzt gleich umsetzen? Oder sie erst mit all deinem heutigen Wissen und all deiner heutigen Erfahrung in aller Ruhe unter die Lupe zu nehmen?

Hinterher ist man immer schlauer

Diese alte Weisheit gilt auch hier. Denn dass die damalige Möglichkeit einmal im Wartesaal der verpassten Möglichkeiten landen würde, konntest du damals noch nicht wissen. Damals hast du dich für etwas anderes entschieden, vor dem Hintergrund der dir damals zur Verfügung stehenden Informationen. Also war es damals die für den Moment richtige Entscheidung.

Und hier kommt das oben erwähnte alte Muster ins Spiel. Schauen wir auf Möglichkeiten, die uns das Leben bietet, eher ängstlich vorsichtig, kann es im Wartesaal recht schnell recht eng werden. Schauen wir neugierig auf das, was das Leben uns (an-)bietet, wägen ab und entscheiden uns aus vollem Herzen, bleibt der Wartesaal leer. Denn dann haben wir keine Möglichkeit verpasst, sondern uns für das Bessere entschieden.

Wenn du also den Wartesaale deiner angeblich verpassten Möglichkeiten heute betrittst, schau dich um, als wenn du liebe alte Bekannte wiedersehen würdest. Und wer weiß, vielleicht ist ja die eine oder andere Möglichkeit heute aktueller den je. Vielleicht brauchte sie und vielleicht brauchtest du die Zeit.

Für mich hat das Bild vom Wartesaal der verpassten Möglichkeiten etwas beruhigendes. Denn dann sind die Möglichkeiten ja nicht wirklich verpasst, sie warten nur.

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